Bildung
[…] ganz nah an Arbeitsmarktthemen dran, auch an den Individuen, wie sie vorgehen, welche Einstellung sie haben.
Kerstin Pietsch arbeitet heute bei einem großen privaten Bildungsträger in Berlin, der arbeitsmarktnahe Dienstleistungen rund um Berufseinstieg, Aus- und Weiterbildung, Umschulung, Rehabilitation, Arbeitsvermittlung und anderes mehr anbietet. Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester machte Kerstin Pietsch auf dem Zweiten Bildungsweg das Abitur und studierte Europäische Ethnologie und Kulturwissenschaft in Berlin. Nach ihrem Abschluss 2004 arbeitete sie zunächst wieder in ihrem Ausbildungsberuf, bevor sie schließlich in ihrem jetzigen Berufsfeld tätig wurde.
Das Interview führte Julia Roßhart.
Wo arbeitest du und was wird dort gemacht?
Ich arbeite bei einem großen privaten Bildungsträger, das ist ein Personaldienstleister am Arbeitsmarkt. Da werden ganz viele verschiedene Sachen gemacht, zum Beispiel Arbeitsvermittlung, Übergang Schule – Beruf, Rehabilitation, Weiterbildung für Berufstätige; und es wurde eine Hochschule für Berufstätige gegründet. Also es geht um den sogenannten Bildungssektor. Zu unseren Auftraggebern gehören unter anderem die Agentur für Arbeit oder die Deutsche Rentenversicherung.
Bei diesem Arbeitgeber arbeite ich jetzt seit knapp zwei Jahren. Ich arbeite im Projektleitungsbereich, mit der gesamten Verantwortung für die inhaltliche und terminlicher Koordination, Abrechnung und so weiter – alles was da dazugehört.
Was für Projekte hast du zum Beispiel betreut?
Zuerst habe ich ein Pilotprojekt gemacht für den Übergang von der Schule in der Beruf. Da ging es darum, bei Schülern frühzeitig die Berufsfindung anzuregen und nicht erst am Ende der Schulzeit. Seit einem Jahr arbeite ich jetzt im Bereich beruflicher Rehabilitation. Das heißt, ich betreue Leute, die aus gesundheitlichen Gründen ihre Berufe nicht mehr ausüben können. Wenn die zu uns geschickt werden, schauen wir, welche gesundheitlichen Einschränkungen vorhanden sind, welche anderen beruflichen Möglichkeiten in Frage kommen und was der Arbeitsmarkt bietet. Dann betreut man sie, macht Bewerbungstrainings, stellt die Unterlagen zusammen, schickt sie auf den Weg in den neuen Beruf und begleitet sie dabei.
Welche Verbindungen siehst du zwischen dem, was du jetzt machst und deinem Ethnologie-Studium?
Erst mal kann man sagen, dass die Leute in meinem Berufsumfeld ganz unterschiedliche Studienabschlüsse haben; viele z. B. sind klassische Sozialpädagogen, aber eben nicht alle.
Die Kompetenzen, die man aus der Europäischen Ethnologie mitbringt, liegen in der Art und Weise, mit der man auf die Dinge schaut, die man jeden Tag sieht und darin, wie man diese Dinge analysiert. Ich muss zum Beispiel ganz viel telefonieren, akquirieren, habe mit ganz vielen Leuten zu tun. Dafür braucht man die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche Zielgruppen einstellen zu können, und das lernt man in der Feldforschung - das habe ich jetzt selbst nicht so gemacht im Studium, aber ich musste akquirieren etwa für die Magisterarbeit.
Im Berufsorientierungsprojekt mit Schülern war das wichtig: Geh' mal in eine Schule und hole das Lehrerkollegium für das Projekt auf deine Seite – da braucht man Kommunikationsfähigkeit, das ist extrem wichtig, sonst geht es nicht. Also diese Einstellung auf unterschiedlichste Zielgruppen und Bildungsmilieus, das muss man einfach beherrschen, sonst findet man keinen Zugang zu den Leuten. Und es ist immer auch der ethnologische Blick auf diese kleinen lebensweltlichen Ausschnitte, auf das Individuum, auf den Kontext.
Außerdem braucht man eine hohe Frustrationstoleranz, und ich glaube, das ist eine Eigenschaft, die Ethnolog_innen haben, weil sie, wenn sie sich ein Feld erobern, mit Zurückweisung umgehen und sich auf das Feld einstellen müssen. Also man lernt, sich auf eine professionelle Ebene einzustellen und zu verstehen, wie das Feld funktioniert.
Und inhaltlich?
Ich bin letztlich ein einem Bereich gelandet, der ganz viel damit zu tun hat, worüber ich meine Magisterarbeit geschrieben habe, obwohl das so nicht absehbar war. Ich habe damals über den Strukturwandel in der Arbeitswelt, konkret zu beruflicher Auszeit geschrieben. Und letztlich bin ich jetzt immer ganz nah an Arbeitsmarktthemen dran, auch an den Individuen, also wie sie vorgehen, welche Einstellung sie haben. Also einerseits bin ich Projektleiterin, aber ich bin auch Coach, Ansprechpartnerin – das hat auch ganz stark was von sozialpädagogischer Arbeit. Auf jeden Fall finde ich das, was die Theoretiker der Spätmoderne immer betont haben, heute im Alltag wieder. Mit diesem Wissenshintergrund schaut man natürlich anders auf die Dinge.
Was musstest du ganz neu lernen in deinem Berufsfeld?
Also, was ich merke ist, dass man so ein ganz hybrides Berufswesen sein muss: Also ich muss Sekretärin sein, ich muss Coach sein, ich muss Sozialpädagogin sein. Was im Studium fehlt, ist das Handwerk, also Basissachen: Datenbanken, Excel, fundierter Umgang mit PC-Programmen zum Beispiel. Das muss man sich in der Regel durch learning by doing im Arbeitsalltag aneignen.
Wie sieht dein Arbeitsalltag aus, wenn es denn einen gibt?
Ja, ja, doch, aber der ist immer sehr turbulent. Wenn ich zurückdenke an das Berufsorientierungsprojekt mit den Schüler_innen: Da musste ich eine inhaltliche und terminliche Koordination machen, ich musste Seminare organisieren, mit den Lehrer_innen sprechen, Betriebe organisieren, Exkursionen machen, mit den Dozent_innen und mit den Verantwortlichen der Betriebe sprechen – Feld, sage ich da nur. Außerdem musste ich mit den Auftraggebern sprechen und die Dokumentation machen.
Also im Moment habe ich einen relativ klar strukturierten Arbeitsalltag. Wenn Kurse für die Teilnehmer stattfinden, die umschulen wollen, gibt es eine dreimonatige Vorbereitungszeit: Dann muss ich Dozent_innen akquirieren, einen Stundenplan zusammenstellen, die Teilnehmenden einladen, später mit den Dozent_innen sprechen und die Teilnehmenden betreuen; da checke ich dann die Bewerbungsunterlagen, suche ggf. geeignete Betriebe, und zwar alles: KFZ-Werkstätten, Arztpraxen, Büros, alles eben.