Verwandschafts-Kulturen
Förderlaufzeit: | 2004 – 2013 |
Förderinstitution: | Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) / SFB 640 |
Das Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs 640 "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel" untersucht aus ethnographischer Perspektive Verwandtschaft als zentrales Repräsentationselement sozialer Ordnungen in der Entwicklung europäischer Gesellschaften. Während der ersten Forschungsphase (2004–2008) wurden qualitative Fallstudien in Istanbul und Berlin sowie in transnationalen Räumen generiert, die die Herausbildung von Eltern-Kind-Beziehungen, Verwandtschaftsnetzwerken und Verwandtschaftlichkeit nach Inanspruchnahme assistierender Reproduktionstechnologien oder Adoption rekonstruieren. Verwandtschaft wurde dabei nicht primär als Klassifikationssystem oder verborgene Grammatik in den Blick genommen, sondern in ihrem Potential zur sozialen Organisation und als "strukturierende Struktur".
In der zweiten Forschungsphase (2008–2012) steht die Frage im Zentrum, wie natur- und sozialwissenschaftliches Wissen über technologisch assistierte Reproduktion und Adoption sowie rechtliche und ethische Formen ihrer Regulierung den Alltag gelebter "Verwandtschaftlichkeit" prägen. Die empirische Arbeit konzentriert sich auf die Beobachtung verwandtschaftlicher Performativität in familienbiographischer longue durée. Ein Teil (N = 30) der bereits generierten Fallstudien (N = 70) wird durch kontinuierlich-rekurrierende, narrative Interviews und seriell-situationszentrierte Formen teilnehmender Beobachtungen in einer ethnographischen Langzeitstudie weitergeführt. Ergänzend wird mit Experteninterviews, Dokumenten- und Zeitungsanalysen sowie internetbezogenen Methoden gearbeitet.
Die komparatistische Perspektive auf Deutschland, die Türkei und den transnationalen Raum wird durch Fallstudien in Großbritannien ergänzt. Großbritannien verfolgt einen explizit pragmatischen Regulierungskurs, der sich vom prinzipien-orientierten Regulationsgedanken in Deutschland und den durch Staatsraison fundierten oder religiös motivierten Regulationsprinzipien in der Türkei unterscheidet. Auch Regulierungsinitiativen auf europäischer Ebene sind in ihren Auswirkungen auf differente, alltägliche Verwandtschaftspraxen beobachtbar. Ausgehend von dem empirischen Befund, dass Patienten und Familien, Mediziner und Experten in hohem Maße wissenschaftliche und regulative Entwicklungen in anderen Ländern verfolgen, werden die vergleichenden Praxen und Repräsentationen der Alltagsakteure in einer Verbindung von Vergleichs- und Transferansätzen als paraethnographische Quelle (Holmes/Marcus) genutzt und gleichzeitig als Transferphänomene interpretiert.
Ethnographisch-komparative Fallstudien
Nurhak Polat: Wissensproduktion/-management und Betroffenenaktivismus im Bereich der Reproduktionstechnologien: Organisationen ungewollt Kinderloser in der Türkei
Maren Klotz: Verwandtschaft wissen. Familiäres und institutionelles "Wissensmanagement" bei Keimzellspende in Grossbritannien und Deutschland
Publikationen
- Nurhak Polat: In-Vitro-Fertilisation as global form – the Turkish case: Knowledge, kinship and a gendered technology in practice. International Multidisciplinary Women’s Congress “Change and Empowerment” 2010, Izmir. In: Kongressbuch (im Druck)
- Maren Klotz, Michi Knecht: Wissenswege lokal – global: Zur Ethnographie von Wissenspraxen und Regulierungsformen im Umgang mit Reproduktionstechnologien. In: Windmüller, Sonja (Hg.): Zum Profil einer volkskundlichen Kulturwissenschaft, Hamburg, 2010, 211-236
- Maren Klotz: Verwandtschaft wissen. Familiäres und regulatives ‚Wissensmanagement’ im Bereich assistierter Reproduktion. In: Simon, Michael (Hg.): Bilder, Bücher, Bytes – Zur Medialität des Alltags. (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde). Münster.
- Maren Klotz: Samenspende: Lost in Translation. In: GID Gen-ethischer Informationsdienst, Bd. 190, 2010, S. 29-32
- Stefan Beck, Sabine Hess, Michi Knecht: Verwandtschaft in Transformation. „Making Kin“ in transnationalen Räumen. In: Jörg Baberowski, Hartmut Kaelble, Jürgen Schriewer (Hg): Selbstbilder und Fremdbilder. Campus, 2008. S. 365-397
- Heike Bock, Jörg Feuchter, Michi Knecht (Hg): Religion and Its Other. Secular and Sacral Concepts and Practices in Interaction. Campus, 2008.
- Stefan Beck: Natur | Kultur. Überlegungen zu einer relationalen Anthropologie. In: Zeitschrift für Volkskunde, 104 Jg., 2008/ 2. S. 161-199
- Sabine Hess, Michi Knecht: Reflexive Medikalisierung im Feld moderner Reproduktionsmedizin. Zum aktiven Einsatz von Wissensressourcen in gendertheoretischer Perspektive. In: Nikola Langreiter, Elisabeth Timm u.a. (Hg.): Wissen und Geschlecht (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie), Wien, 2008.
- Michi Knecht: Reproduktionstechnologien und die Biomedikalisierung von Verwandtschaft – Anmerkungen aus ethnographischer Perspektive. In: Das Argument 275, 2008. S. 179-194
- Stefan Beck, Nevim Cil, Sabine Hess, Maren Klotz, Michi Knecht (Hg): Verwandtschaft machen. Reproduktionsmedizin und Adoption in Deutschland und der Türkei. Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Bd. 42, 2007.
- Stefan Beck, Sabine Hess, Michi Knecht: Verwandtschaft neu ordnen. Herausforderungen der Reproduktionsmedizin und der Transnationalisierung. In: Maren Klotz, Michi Knecht, Nevim Cil, Sabine Hess, Stefan Beck (Hg): Verwandtschaft machen. Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Bd. 42, 2007. S. 12-31
- Maren Klotz: Doing Kinship in British Parliament: Selfish parents – disruptive children?”. In: Maren Klotz, Michi Knecht, Nevim Cil, Sabine Hess, Stefan Beck (Hg): Verwandtschaft machen. Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Bd. 42, 2007. S. 80-91
- Maren Klotz: Globalverwandtschaft. Im Gespräch mit Edith Hufnagel, Adoptivmutter und Vorstandsmitglied der Auslandsadoptionsvermittlungsstelle ‚Eltern-Kind-Brücke. In: Maren Klotz, Michi Knecht, Nevim Cil, Sabine Hess, Stefan Beck (Hg): Verwandtschaft machen. Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Bd. 42, 2007. S.160-167
- Michi Knecht: Spätmoderne Genealogien. Praxen und Konzepte verwandtschaftlicher Bindung und Abstammung. In: Maren Klotz, Michi Knecht, Nevim Cil, Sabine Hess, Stefan Beck (Hg): Verwandtschaft machen. Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Bd. 42, 2007. S. 92-107
- Stefan Beck: Medicalizing Culture(s) or Culturalizing Medicine(s)?. In: Regula Valerie Burri, Joe Dumit (Hg): Medicine as Culture. Instrumental Practices, Technoscientific Knowledge, and New Modes of Life (=Routledge Studies in Science, Technology and Society, Vol. 6). London 2007. S. 17-33
- Stefan Beck: Gedächtnisse des Körpers. Zum Konzept der Haut als Transaktionszone zwischen Natur und Kultur. In: Jörn Ahrens, Mirjam Biermann, Georg Töpfer (Hg.): Die Diffusion des Humanen. Grenzregime zwischen Leben und Kulturen. Frankfurt/M 2007. S. 31-51
- Stefan Beck: Praktiken der Lokalisierung. Transfer, Hybridisierung und Interdependenz als Herausforderungen ethnologischer Beobachtung. In: Comparativ, Bd. 16, Heft 3, 2006. S. 13-29
- Stefan Beck: Enacting Genes – Anmerkungen zu Familienplanung und genetischen Screenings in Zypern. In: Sigrid Graumann, Katrin Grüber (Hg.): Biomedizin im Kontext (= Mensch, Ethik und Wissenschaft, Bd. 3). Münster 2006. S. 221-237
- Stefan Beck: Wissenschaft und die Transformation des Alltags – sozialanthropologische Anmerkungen zur Variation biopolitischer Regimes. In: B. Liebig, M. Dupuis, I. Kriesi, M. Peitz (Hg.): Mikrokosmos Wissenschaft. Transformationen und Perspektiven. (Interdisziplinäre Vortragsreihe der Eidgenössischen TH und der Universität Zürich. Hochschulforum, Bd. 39.) Zürich 2006: Universitätsverlag. S. 205-226
- Michi Knecht: Ethnographische Wissensproduktion und der Körper als ethnographisches Objekt im Feld moderner Reproduktionsmedizin. In: Beate Binder, Silke Göttsch, Wolfgang Kaschuba, Konrad Vanja (Hg.): Ort. Arbeit. Körper. Ethnographien europäischer Modernen. Münster / New York München / Berlin: Waxmann Verlag 2005. S. 421-429